"Ich weiß, wer du bist."


Monika Neve
: Sind Sie durch dieses sportliche Engagements davor bewahrt geblieben, in die obligatorischen nationalsozialistischen Jugendorganisationen eintreten zu müssen?

Willi Seiß: Nein, aber ich konnte mich dadurch aber dem wöchentlichen aktiven Dienst in der Hitlerjugend entziehen, indem ich sagte: "Ich muss zum Training gehen!"

Monika Neve: Und das wurde akzeptiert?

Willi Seiß: Was sollten sie denn machen. Ich sagte ihnen: Ich fahre ja nachher auch für euch die Rennen, folglich muss ich trainieren … - Dann kam ein Ereignis, das man generell erwähnen muss. Wir mussten einmal antreten und wurden von Offizieren der Waffen-SS inspiziert. Die Offiziere liefen an uns vorbei, deuteten dabei mit dem Finger auf den einen oder anderen: „Vortreten, zur Waffen-SS!" Wir wurden einfach gezwungen. Als ich an die Reihe kam, hieß es: "Vortreten, zur Waffen-SS". Mein Schicksal bewahrte mich davor, da ich als Freiwilliger zur U-Boot-Marine nicht zur SS gezwungen werden konnte.

Monika Neve: Sie sind also als "Landratte" - wie man bei uns an der Küste sagt – zur  Marine gegangen?

Willi Seiß: Ja. Ich hatte innerlich gewüsst, dass ich-zu dieser Waffengattung gehen müsste. Ich wurde früh eingezogen. Meine Ausbildung begann in Eckernförde und das Kriegsende entschied sich für mich in Estland, in Tallinn, dadurch, dass unser U-Boot, aus dem Finnischen Meerbusen zur Material- und Proviantübernahme kommend, bei einem russischen Luftangriff einen Bombentreffer erhielt, der das Boot zu weiterem Einsatz ausschloss. So zuckelten wir, tauchunfähig, entlang der Ostseeküste von Werft zu Werft, ohne dass das Boot richtig repariert werden konnte.

Monika Neve: Wie haben Sie den Krieg mit dem U-Boot erlebt? Haben Sie die Dramatik des Krieges unter Wasser miterlebt, oder war das U-Boot als solches schon dramatisch genug? Haben Sie auch Angriffe  führen müssen, also auf andere Schiffe geschossen und diese versenkt?

Willi Seiß: Ein U-Boot mit seinen komplizierten und ineinandergreifenden Funktionen oder Abläufen war fiür mich nicht dramatisch, vielmehr interessant, sodass ich mich auf allen Stationen des Boote zurechtfand, auch die Maschinen bedienen konnte, obwohl ich Leiter der Funkstation des Bootes war. Mich erfüllte diese Aufgabe so sehr, dass ich eine Versetzung zur Seeoffiziersschule ausschlug, was wiederurn zur Folge hatte, dass ich auf diesem Boot verbleiben musste. Da unser Boot zuletzt mit der Aufgabe betraut war, die russische Ostseeflotte in Petersburg abzufangen, waren wir nicht im fernen Einsatz im Atlantik, was uns ersparte, andere Schiffe versenken zu müssen, deren Besatzungen ja nach einem Treffer nicht gerettet werden durften. So wurde ich in fünf Jahren aktiven Einsatz davor bewahrt, Menschen töten zu müssen. Ein Schicksal, das vermutlich bei der Waffen-SS nicht so abgelaufen wäre. - Ich habe sogar viele Leben retten können - und zwar dadurch: Der Finnische Meerbusen - in dem sechs deutsche U-Boote lagen - wurde morgens um vier Uhr geschlossen, von deutschen Minenleger, weil die Russen auf dem Landweg vormarschiert waren. Jetzt mussten wir raus aus dem Meerbusen. Nun sind die Funksprüche, dass die U-Boote raus sollten, nicht angekommen: sie waren falsch verschlüsselt. Und ich habe nach zweimaligem Versuch, die jedes Mal in einem Reserve-Hand-Verfahren stattfanden, diese Funksprüche schließlich entschlüsseln können und habe die ganze U-Boot-Einheit aus dem Meerbusen herausgeleitet. Ich übernahm damals die Funkleitung von der gesamten Ostsee, weil ich mit meinen paar Leuten das einzige Boot hatte, das sämtliche Funksprüche - komplett - empfangen und entschlüsselt hatte, mehr als die Landeinheit, und weitergegeben habe. Dadurch habe ich die Funkleitung in Kiel abgesetzt und habe die Funkleitung Ostsee übernommen. Das wäre ein Thema für sich, das darzustellen …