"Ich weiß, wer du bist."


Monika Neve
: Wie lange haben Sie diese Schule besucht?

Willi Seiß: Nun, Zeit und Schulgeld spielte für mich keine Rolle. Und als Schwebsch sagte zu mir, „Sie können in die 11.Klasse- und mein Freund sollte in die 10., sagte ich, nein, dann gehe ich auch in die 10., denn wir wollten zusammen bleiben. - Ernst Weißert bekamen wir als Tutor. So lernte ich damals noch all die alten Waldorflehrer kennen: Herbert Hahn, Max Wolfhügel, den lieben Karl Schubert. - Dieser Mann war ein Phänomen. Er stand meist in der Pause an die Wand vom Hauptgebäude gelehnt. Ich weiß nicht wie, jedenfalls stellte ich mich ihm gegenüber. Wir schauten uns lange wortlos an. Minutenlang. Dann gingen wir voneinander.

Monika Neve: Auch eine ungewöhnliche Art der Begegnung.

Willi Seiß: Ich habe erst später erfahren, um wen es sich bei Karl Schubert gehandelt hat. Das können Sie aufnehmen oder rausschneiden: Er war einer von den beiden Jüngern auf dem Gang nach Emmaus … Der zweite Jünger war gleichfalls ein Zeitgenosse. Beiden bin ich in diesem Erdenleben begegnet.

Monika Neve: Wie ist Ihre Schullatdbahn dann weitergegangen?

Begegnung mit Karl König und der Camphill-Bewegung

Willi Seiß: Dann kam die Währungsreform. Damit war das Geld nichts mehr wert und ich konnte nicht weitermachen, Ich suchte eine wirtschaftliche Betätigung und fand auch eine. Ich muss noch einfügen: Während der damaligen Schulzeit besuchte ich fast allabendlich Arbeitsgruppen, die von älteren Anthroposophen eingerichtet waren. So lernte ich viele Menschen kennen und viele Bereiche der Anthroposophie. Auch mit dem Lehrer an der Wirtschaftsoberschule. Wir waren durch viele Jahre jeden Sonntagmorgen mit einem kleinen Kreis zusammen, in dem wir sämtliche grundlegenden Werke Steiners studierten.

Da hörte ich einen Vortrag von Dr. Karl König in Stuttgart. Während des Vortrags drehte er sich etwas um und blickte mich an. Durch unseren Blickkontakt wusste ich, dass wir etwas miteinander zu tun hatten und wohl noch haben würden. Nach dem Vortrag ging ich zu ihm. Er hatte über Camphill gesprochen. Ich entschloss mich, dorthin zu gehen. So brach ich in Stuttgart alles ab und ging nach Camphill.

Aber eines möchte ich doch noch erwähnen. Es gab nach dem Krieg keine Bücher von Rudolf Steiner. Uns standen lediglich mit Maschinenschrift einige Seiten aus Werken Stei­ners zur Verfügung. Wenn noch irgend ein Buch vorhanden war, wurde es behütet. Nichts stand uns zur Verfügung wie heute, wo mit Literatur eine Überflutung vorliegt. Als ich einmal den Lebensgang Steiners in die Hand bekam, schrieb ich diesen in den Nachtstunden von Hand vollständig ab. Diese Inhalte des Lebensganges waren für mich ein Glückserlebnis. - Nun zu Camphill.

Monika Neve: Für die Leser: wo lag Camphill?

Willi Seiß: In Schottland, nahe bei Aberdeen. Ich besuchte dort das Heilpädagogische Seminar. Dieser Einrichtung lag ja zugrunde, dass eine Gruppe jüdischer Menschen Deutschland hinter sich lassen mussten. König erzählte mir und meiner Frau später, wie er an der Grenze nach Italien - er reiste zunächst zu Freunden nach Rom - von einer SS-Kontrolle aus dem Zug geholt wurde, indem einer sagte: Sie sind doch Jude. Da sei ein angetrunkener SS-Mann hinzugekommen und sagte: das ist mein Freund, lass den in Ruhe. Auf diese Weise kann er aus Deutschland heraus. Daran kann vieles erkannt werden.