"Ich weiß, wer du bist."


Monika Neve
: Sie haben das Kriegsende dann wo erlebt?

Willi Seiß: In Flensburg, wo wir unser Schiff vor dem Zugriff der Engländer versenkten. Zuvor lagen wir in der Werft in Kiel.

Dort hatte ich ein einschneidendes Erlebnis. Ich erhielt eines Tages ein Büchlein einer Sammlung von Aufsätzen von Nietzsche. Ich sehe mich noch heute vor einer Baracke an einem Sonntag im Sonnenschein sitzen und darin lesen. Es stand beim Lesen vor mir die Frage: Wie kommt dieser Mann, von dem ich damals noch nichts gehört hatte, dazu, so zu denken? Diese Art zu denken, nicht der Inhalt, den ich nicht verstanden hatte, faszinierte mich. Ich lernte ganze Passagen auswendig, um meine Gedanken daran zu beobachten, ob auch ich so denken könne? Damals nahm ich mir vor: so wie der denkt, will ich denken lernen.

Monika Neve: Dies war also ein Schlüsselerlebnis für Sie, diese Erfahrung mit Friedrich Nietzsches Denken?

Foto: Willi Seiß im Krieg, als Funker bei der U-Boot-Waffe (a.d. Bild mit heller Kleidung, rechts)Willi Seiß: Das war es! - Es kam noch eines hinzu. Die täglichen massiven Bombardierungen der Werft in Kiel erforderten, auch durch die Gefährdung von Land her, unser Boot nach Norden, nach Flensburg zu verlegen. Infolge der vorrückenden englischen Truppen war für uns unausbleiblich geworden, das Boot vor dem Zugriff der Engländer zu versenken. Wir lagen weit draußen in der Förde mit noch fünf Mann an Bord, um das Boot zu fluten. Ich war als letzter auf dem Turm des langsam sinkenden Bootes, um meinen Kameraden in der dunklen Nacht zum Heck zu leuchten. Beim Weg vom Turm zum sinkenden Heck verfing ich mich in der Dunkelheit in einem ausgeworfenen Seil, das mich in die Tiefe zog.

Es war meine Rettung, dass das Seil im letzten Moment noch durchgeschnitten werden konnte und ich gleichfalls zu den anderen in ein vorüberkommendes Boot gezogen wurde. Im Bild ein eigenartiges Zeichen, das mir von außen für den Tod oder die lnitiation gegeben wurde. - Überhaupt waren wir in Situationen, die nur durch Geistesgegenwart unser Boot vor dem Verlust oder Untergang retteten. Aber das führt hier zu weit. - Durch unsere hohen Verluste an U-Booten im Atlantik, aber auch schon bei den aus der Ostsee auslaufenden Booten im Skagerak und von der französischen Atlantikküste, in der Biskaya wurden erfahrene Leute gesucht, um zu Seeoffizieren ausgebildet zu werden, die zur Übernahme von U-Booten vorgesehen waren, insbesondere zu damals neuen Bootstypen. Da ich nach Kriegsende als Funkoffizier zur See fahren wollte, war mein Weg klar. Dieser Entschluss bewahrte mich vor dem Einsatz in den letzten Kriegstagen in Berlin, wohin alles, was noch zur Verfügung stand, hin abkommandiert wurde.

Monika Neve: Wie alt waren Sie, als Sie nach dem Krieg auf abenteuerlichen Wegen, von denen Sie mir mal erzählt haben, wieder zurück nach Stuttgart kamen?

Willi Seiß: Da war ich gerade mal gut 22 Jahre alt.

Monika Neve: Was fanden Sie zu Hause vor? Und wie gestaltete sich Ihr Weg dann weiter?

Willi Seiß: Also, da war alles zerstört. Das Elternhaus war ausgebombt. - Ich selbst hatte mir vorgenommen: ich will mit der Schule weitermachen.. So hatte ich versucht, in die Wirtschaftsoberschule zu kommen, um das Wirtschaftsabitur zu machen. - Geldsorgen hatte jedenfalls keine...